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Der Prediger

Langsam und schwer vom Thurme stieg die Klage,
Ein dumpf Gewimmer zwischen jedem Schlage,
Wie Memnons Säule weint im Morgenflor.
Am Glockenstuhle zitterte der Balke,
Die Dohlen flatterten vom Nest, ein Falke
Stieg pfeifend an der Fahne Schaft empor.

Wem dröhnt die Glocke? – Einem der entkettet,
Deß müden Leib ein Fackelzug gebettet
In letzter Nacht bei seinem einzgen Kind.
Wer war der Mann? – Ein Christ im ächten Gleise,
Kein Wucherer, kein Ehrendieb, und weise
Wie reiche Leute selten weise sind.

Darum so mancher Greis mit Stock und Brille,
So manches Regentuch und Handpostille,
Sich mühsam schiebend durch der Menge Drang.
Er war ein heitrer Wirth in seinem Schlosse, –
Darum am Thor so manche Staatskarosse,
So mancher Flor das Kirchenschiff entlang.

Die Glocken schwiegen, alle Kniee sanken,
Posaunenstoß! – Die Wölbung schien zu wanken.
O "DIES IRAE, DIES ILLA!" Glut
Auf Sünderschwielen, Thau in Büßermalen!
Mir war als säh ich des Gerichtes Schalen,
Als hört' ich tröpfeln meines Heilands Blut.

Das Amen war verhallt. Ein zitternd Schweigen
Lag auf der Menge, nur des Odems Steigen
Durchsäuselte den weiten Hallenbau.
Nur an der Tumba schwarzer Flämmchen Knistern
Schien leise mit dem Grabe noch zu flüstern,
Der Weihrauchwirbel streute Aschengrau.

"Geliebte!" scholl es von der Wölbung nieder,
Die Wolke sank, und mählich stiegen Glieder,
Am Kanzelbord ein junger Priester stand.
Kein Schattenbild dem alle Lust verronnen,
Ein frischer saftger Stamm am Lebensbronnen,
Ein Adler ruhend auf Jehovah's Hand!

"Geliebte", sprach er, "selig sind die Todten
So in dem Herrn entschliefen, treue Boten,
Von ihrer Sendung rastend." Dann entstieg
Das Wort, gewaltig wie des Jordans Wallen,
Mild wie die Luft in Horebs Cederhallen,
Als er bezeugte des Gerechten Sieg.

Die Stimme sank, des Stromes Wellen schwollen,
Mir war als hört ich ferne Donner rollen:
"Weh über euch, die weder warm noch kalt!
O, wäret kalt ihr oder warm! die Werke
Von eurer Hand sind todt, und eure Stärke
Ist gleich dem Hornstoß der am Fels verhallt."

Und tiefer griff er in der Zeiten Wunde,
Die Heller ließ er klingen, und vom Grunde
Hob er den seidnen Mottenfraß an's Licht.
Erröthen ließ er die bescheidne Schande
In ihrem ehrbar schonenden Gewande,
Und zog der Lust den Schleier vom Gesicht.

Die Kerzen sind gelöscht, die Pforte dröhnte.
Ich hörte schluchzen, – am Gemäuer lehnte
Ein Weib im abgetragnen Regentuch.
Ich hörte säuseln – neben mir, im Chore,
Ein Fräulein gähnte leise hinterm Flore,
Ein Fahnenjunker blätterte im Buch.

Und alle die bescheidnen Menschenkinder,
Wie sich's geziemt für wohlerzogne Sünder,
Sie nahmen ruhig was der Text bescheert.
Und Abends im Theater sprach der Knabe,
Der achtzehnjährge Fähndrich: "Heute habe
Ich einen guten Redner doch gehört!"

 

 

Handpostille] Postille: ursprünglich die Erklärung eines biblischen Textes, dessen Wortlaut abschnittweise vorangestellt war, daher mittellat. post illa (verba sacrae scripturae); seit dem 16. Jahrhundert: Erbauungsbuch; als solches bis weit ins 19. Jahrhundert neben Gesangbuch und Kalender einzige Lektüre der ›einfachen Leute‹.

Drang] Gedränge, Andrang.

Flor] feines Gewebe; leichte, dünn gewebter Stoff aus Seide.

dies iræ, dies illa] früher Sequenz in Messen für Verstorbene Bestandteil der römisch-katholischen Liturgie: Tag des Zorns, jener Tag.

Sünderschwielen] hier: hartnäckige, unbußfertige Sünder.

Tumba] Sargattrappe, Katafalk.

Horebs Cederhallen] Horeb ist der Berg der Gottesoffenbarung (Dtn 1,6), identisch mit dem Berg Sinai.

Fahnenjunker] Offiziersanwärter im Unteroffiziersrang, die im 18. Jahrhundert die Fahnen trugen.

 

Hier gelangen Sie zum Druck des Gedichts in der Ausgabe 1844